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Zwischen Sorge und Schweigen – Führung im Umgang mit psychisch belasteten Mitarbeitenden

Teil 1 der Reihe: Psychisch erkrankte Mitarbeitende im Team – Führungsverantwortung mit Haltung und Handlungsrahmen

Es beginnt oft schleichend. Ein Mitarbeiter wirkt stiller als sonst, reagiert gereizt oder zieht sich zurück. Eine Kollegin kommt häufiger zu spät, liefert nur noch das Nötigste ab – oder fehlt wiederholt ohne klare ärztliche Erklärung. Als Führungskraft spürt man: Irgendetwas stimmt nicht. Aber was tun?

Zwischen Beobachtung und Blockade

Trotz aller Fortschritte in der gesellschaftlichen Enttabuisierung psychischer Erkrankungen ist die Hemmschwelle zur direkten Ansprache nach wie vor hoch. Viele Führungskräfte, mit denen ich arbeite, berichten von einem inneren Dilemma:
Ich will helfen – aber darf ich das überhaupt ansprechen? Was, wenn ich etwas Falsches sage?

Gleichzeitig beobachten sie, dass die übrigen Teammitglieder beginnen, die Situation aufzufangen. Zusätzliche Arbeit, schlechte Stimmung oder Konflikte entstehen – oft über Wochen oder Monate hinweg. Spätestens hier kommt die Fürsorgepflicht der Führungskraft ins Spiel. Und die betrifft nicht nur den einzelnen Mitarbeitenden, sondern das ganze Team.

Gespräch suchen – aber wie?

Die Ansprache ist für viele Führungskräfte die größte Hürde. Dabei ist sie der entscheidende erste Schritt. Nicht um zu diagnostizieren, sondern um Wahrnehmungen zu spiegeln und Hilfe anzubieten. Hier setzt das HILFE-Konzept an – ein strukturiertes Gesprächsmodell, das ich seit über zwölf Jahren Führungskräften vermittle.

Ursprünglich für den Umgang mit Suchtproblematiken entwickelt, lässt es sich hervorragend auf andere psychische Belastungen übertragen. Es geht dabei nicht um Kontrolle, sondern um Verantwortung: Verantwortung für das Gespräch, für die Rahmenbedingungen – und letztlich für die Gesundheit im ganzen Team.

Das HILFE-Konzept – ein Gesprächsmodell mit Struktur und Haltung

HILFE steht für fünf aufeinander aufbauende Führungsimpulse:

  • H – Hinsehen: Veränderungen im Verhalten, in der Leistung oder im Miteinander bewusst wahrnehmen. Auch kleine Irritationen ernst nehmen.
  • I – Initiative ergreifen: Nicht abwarten, sondern frühzeitig und empathisch das Gespräch suchen – bevor sich etwas verfestigt oder eskaliert.
  • L – Leitungsfunktion wahrnehmen: Klar benennen, dass die beobachteten Veränderungen die Zusammenarbeit beeinflussen – und dass Handlungsbedarf besteht.
  • F – Fördern und Fordern: Unterstützungsangebote machen, aber auch Verantwortung einfordern: Die eigene Gesundheit ist kein delegierbares Thema.
  • E – Expert*innen einbeziehen: Je nach Situation und in Absprache mit dem Mitarbeitenden BEM-Team, Personalabteilung oder externe Hilfe hinzuziehen.

Das Modell hilft, in einer menschlich schwierigen Lage handlungsfähig zu bleiben – ohne zu moralisieren oder in eine therapeutische Rolle zu rutschen.

Der erste Schritt zählt

In der ersten Stufe des HILFE-Modells geht es darum, beobachtete Veränderungen wertschätzend anzusprechen. Ohne Diagnose, ohne Interpretation – aber mit klarer Haltung:

„Mir ist aufgefallen, dass du in letzter Zeit oft sehr erschöpft wirkst und dich zurückziehst. Ich mache mir Sorgen – wie geht es dir?“

Dieser Schritt wirkt banal – und ist doch oft entscheidend. Denn er signalisiert: Ich sehe dich. Ich nehme wahr, dass etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist. Und ich bin bereit, mit dir nach einem Weg zu suchen.

Kein Gespräch ersetzt Therapie – aber jedes Gespräch kann den Weg dorthin ebnen

Führungskräfte sind keine Therapeut*innen. Aber sie haben eine Schlüsselrolle als Wegbereiter*innen. Viele Menschen suchen erst dann professionelle Hilfe, wenn das Gespräch mit ihrer Führungskraft sie dazu ermutigt – oder ihnen deutlich macht, dass ihre Funktion im Team leidet.

In meiner Praxis erzählen mir Betroffene häufig rückblickend: „Ich brauchte diesen Anstoß. Allein hätte ich mich nicht getraut.“ Genau hier zeigt sich: Verantwortungsvoll ansprechen ist Fürsorge – nicht Übergriffigkeit.

Vorschau auf Teil 2:

Wie kann ich als Führungskraft eine klare Grenze ziehen – empathisch, aber bestimmt? Und wie kann ich vermeiden, selbst in eine therapeutische Rolle zu rutschen?

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