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„H wie Hinsehen“ – das erste Gespräch mit psychisch belasteten Mitarbeitenden

Teil 2 der Reihe: Psychisch erkrankte Mitarbeitende im Team – Führungsverantwortung mit Haltung und Handlungsrahmen

Viele Führungskräfte hoffen, dass sich alles im ersten Gespräch löst. Doch das erste Fürsorgegespräch ist kein Heilversuch – sondern der Anfang eines professionellen Prozesses. Ein Gespräch, das Haltung, Vorbereitung und innere Klarheit erfordert.


Zwischen Kritik und Fürsorge: Ein entscheidender Unterschied

In meinen Seminaren erlebe ich oft, dass Führungskräfte gut geschult sind im Umgang mit Kritikgesprächen – etwa mit dem bewährten SAGES-Modell: Sichtweise – Auswirkungen – Gefühle – Einschätzung – Schlussfolgerung.
Doch ein Fürsorgegespräch nach dem HILFE-Modell ist etwas ganz anderes.

Hier geht es nicht um Pflichtverletzung, sondern um beobachtbare Veränderungen – in Leistung, Verhalten oder Präsenz. Das Ziel ist nicht Rechenschaft, sondern Beziehung. Die häufigste Fehlannahme: Man müsse nur besonders empathisch sein – dann läuft das schon.

Häufig ist das Gegenteil der Fall:
➡ Wer nicht klar in der Rolle bleibt, wer hypothetisiert („Das ist bestimmt eine Depression…“) oder sich zu tief verwickelt, läuft Gefahr, das Ziel aus den Augen und das Gegenüber zu verlieren.


Verantwortung kann nicht delegiert werden

Viele Führungskräfte glauben, ihre Verantwortung in solchen Situationen an das Personalamt, den Personalrat oder andere Stellen weitergeben zu können. Doch das ist ein Irrtum.

Die erste Ansprache ist Führungsaufgabe – und rechtlich nicht delegierbar.
Sie ergibt sich aus der Fürsorgepflicht im Rahmen der Arbeitsschutzgesetze (§ 618 BGB, ArbSchG § 3). Die Führungskraft ist verpflichtet, Gefährdungen frühzeitig zu erkennen und tätig zu werden.

Nur die direkte Führungskraft hat regelmäßig genug Nähe, um Veränderungen zu bemerken – und sie in den richtigen Kontext zu setzen.


Was konkret beobachtbar ist – Funktionseinbußen erkennen

Psychisch belastete Mitarbeitende zeigen häufig Veränderungen in folgenden Bereichen:

  • Konzentrations- und Gedächtnisproblemen
  • Entscheidungsunsicherheit oder Verlangsamung
  • Rückgang von Leistungsvolumen oder -qualität
  • Gereiztheit, Impulsivität oder Rückzug
  • Sozialverhaltensauffälligkeiten (z. B. mangelnde Abstimmung, Teamkonflikte)
  • auffällige emotionale Reaktionen wie häufiges Weinen, übermäßige Nervosität

Solche Anzeichen sind kein Beweis für eine Erkrankung – aber ein legitimer Anlass, Sorge zu äußern und Unterstützung anzubieten.


Wenn Kritik unvermeidbar wird – und trotzdem Fürsorge bleibt

In der Praxis kommt es häufig vor, dass Mitarbeitende sehr empfindlich oder auch provokativ auf Hinweise reagieren.
Dann hilft kein vorsichtiges Umkreisen.
Es ist besser, klar und ehrlich zu benennen, was man wahrnimmt.

„Mir fällt auf, dass Ihre Rückmeldungen an das Team zuletzt gereizt und abwertend klingen. Ich spreche das nicht an, um zu kritisieren – sondern weil ich mir Sorgen mache. So kenne ich Sie nicht.“

Echtheit schützt – auch in schwierigen Momenten. Wichtig ist, bei der Sorge um den Menschen zu bleiben, nicht bei Schuld oder Vorwurf.


Auch das Team hat ein Recht auf Schutz

Psychische Belastungen wirken nicht isoliert. Sie strahlen ins Team hinein.

Oft beobachten wir:

  • Kolleg*innen übernehmen seit Monaten zusätzliche Aufgaben
  • Stimmung und Teamklima leiden
  • Konflikte verschärfen sich

➡ Die Führungskraft hat nicht nur eine Fürsorgepflicht gegenüber dem betroffenen Mitarbeitenden – sondern auch gegenüber dem Team.
Beides gehört zur Ergebnisverantwortung und zur Verantwortung für gesunde Zusammenarbeit.


Was ein „H-Gespräch“ leisten soll – und was nicht

Die erste Gesprächsstufe im HILFE-Modell – das Hinsehen – ist ein Gesprächsangebot. Nicht mehr – und nicht weniger.

Es geht darum:

  • eine beobachtbare Veränderung zu benennen,
  • sich nicht zu verstricken, nicht zu mutmaßen,
  • keine Diagnosen, keine Geschichten, keine Deutungen zu liefern,
  • sondern in der eigenen Haltung klar zu bleiben.

„Ich erlebe dich in letzter Zeit verändert – ruhiger, zurückgezogener, deutlich angespannter. Ich mache mir Sorgen – weil ich dich so nicht kenne.“


Vorbereitung ist alles – auch emotional

Ein solches Gespräch sollte nie spontan geführt werden. Führungskräfte erleben sonst zwei klassische Reaktionen:

  1. Empörung oder Rückzug
    → „Wie kommen Sie dazu?“ / „Das geht Sie gar nichts an!“ / „Ich geh zum Personalrat!“
  2. Emotionale Überflutung
    → Tränen, lange Erzählungen, Hilferufe – weit mehr, als in ein Erstgespräch gehört

Darum gilt:

  • Gespräch frühzeitig ankündigen, z. B.:

    „Ich würde gern mit dir über eine Beobachtung sprechen, die mir in letzter Zeit Sorge macht.“

  • Zeitrahmen und Kontext setzen

    „Ich möchte mit dir 20 Minuten unter vier Augen sprechen.“

  • Gespräch bewusst führen, nicht treiben lassen

    Aktives Zuhören, aber keine Therapie


Haltung schlägt Technik

Die meisten Führungskräfte, die hier ins Straucheln geraten, haben nicht das falsche Werkzeug – sondern eine unklare innere Haltung.

Deshalb übe ich in meinen Coachings und Seminaren genau das:

  • Keine Hypothesen („Ich glaube, das ist Burnout“)
  • Keine Bewertungen („Sie wirken labil“)
  • Kein Bagatellisieren oder Pathologisieren

Sondern:

„Ich mache mir Sorgen um dich – und ich will, dass du weißt, dass du nicht allein bist.“

„Es gibt innerbetriebliche Stellen wie das BEM oder externe Hilfsangebote. Vielleicht wäre das ein guter nächster Schritt.“


Wenn nichts passiert – ist nichts falsch

Viele Führungskräfte erwarten eine „Wende“ im Gespräch. Doch das ist selten.

➡ Es ist nicht das Ziel, dass der oder die Mitarbeitende sich sofort öffnet oder Besserung verspricht.
➡ Es ist ein Erfolg, wenn klar wird: „Ich bin gesehen. Und ich bin nicht allein.“

Veränderung beginnt nicht mit Einsicht – sondern mit Beziehung.
Und ein Gespräch reicht selten. Das nächste folgt: „I wie Initiative ergreifen“ – im dritten Teil dieser Reihe.


Linktipp:

Professionelles Coaching für Führungskräfte im Umgang mit psychisch belasteten Mitarbeitenden:
👉 https://consteps.inawohlgemuth.de/online-coaching-fuer-fuehrungskraefte-i-ina-wohlgemuth