Allgemein

Führen heißt Haltung zeigen – und sagen, was ist

Führungskräfte stehen in nahezu allen Branchen unter Druck: Personalmangel, steigende Anforderungen, wachsende Komplexität. Wer Teams führen will, hat oft das Gefühl, ein Glas balancieren zu müssen, das nie ganz voll ist – manchmal sogar fast leer. Gerade in prekären Arbeitsfeldern wie dem Gesundheitswesen, der Pflege oder der sozialen Arbeit wird diese Realität besonders sichtbar.

In einem Workshop mit Führungskräften aus Pflege und Gesundheitsversorgung ist mir noch einmal klar geworden, wie entscheidend es ist, nicht in die Falle der Schönfärberei zu geraten. Führung bedeutet nicht, Probleme kleinzureden oder die Welt rosa einzufärben. Führung bedeutet, Haltung zu zeigen, die Realität klar zu benennen – und trotzdem Ressourcen zu stärken, wo immer es möglich ist.


1. Realität anerkennen – ohne zu resignieren

Viele Rahmenbedingungen entziehen sich der unmittelbaren Gestaltungsmacht von Führungskräften:

  • politisch gemachte Entscheidungen,

  • restriktive Vorgaben,

  • unfaire Eingruppierungen und Bezahlung,

  • Abwanderung von Fachkräften,

  • ausgedünnte Ausbildung.

Diese Faktoren führen in vielen Organisationen zu Frust und Überlastung. Wer hier Führung übernimmt, läuft Gefahr, zwischen den Fronten zerrieben zu werden – einerseits durch die Erwartungen „von oben“, andererseits durch die Enttäuschungen „von unten“.

Gerade deshalb ist es essenziell, den Mut zu haben, das, was ist, klar zu benennen. Führungskräfte, die so tun, als sei alles in Ordnung, untergraben ihre Glaubwürdigkeit. Beschäftigte spüren sehr genau, ob ihre Realität ernst genommen wird.


2. Alt und jung – unterschiedliche Strategien, gleiche Not

In der Pflege zeigt sich das Dilemma besonders scharf:

  • Ältere Beschäftigte (55+) sind häufig erschöpft, manche zynisch, andere schlicht ausgebrannt.

  • Jüngere achten stärker auf Selbstfürsorge, nehmen eher Auszeiten, lassen sich nicht in dieselbe Erschöpfungsspirale drängen.

Oft wird daraus ein „Generationskonflikt“ gemacht. Doch bei genauerem Hinsehen ist es weniger ein Konflikt zwischen jung und alt – sondern vielmehr ein gemeinsamer Versuch, mit untragbaren Bedingungen umzugehen. Die einen durch Durchhalten bis zur Selbstaufgabe, die anderen durch Schutz der eigenen Ressourcen.

Führungskräfte sind hier gefordert, diese unterschiedlichen Strategien nicht gegeneinander auszuspielen, sondern in ein Gespräch über gemeinsame Belastungen zu bringen.


3. Zukunftsgespräche 55+ – Erfahrung sichern, Übergänge gestalten

Praktische Handreichung für Führungskräfte: Besonders hilfreich kann es sein, mit älteren Mitarbeitenden ab Mitte 50 gezielt sogenannte Zukunftsgespräche zu führen – unabhängig von der klassischen Leistungsbeurteilung.

Dabei geht es um Fragen wie:

  • Welche Pläne haben Sie für die kommenden Jahre?

  • Möchten Sie noch einmal neue Aufgaben übernehmen oder Projekte verantworten?

  • Sehen Sie sich eher in der Rolle einer Mentor*in für Jüngere?

  • Wo können wir Lernpartnerschaften gestalten – etwa beim Wissenstransfer oder bei Themen wie Digitalisierung?

Solche Gespräche geben Raum, die Erfahrung älterer Beschäftigter sichtbar zu machen und gleichzeitig Übergänge zu gestalten. Viele klagen darüber, dass ihr Wissen nicht genutzt wird und „verpufft“, wenn sie gehen. Zukunftsgespräche sind eine Möglichkeit, diese Ressource bewusst zu sichern.

Gleichzeitig ist es wichtig, auch die jüngeren Beschäftigten engmaschig zu begleiten: Unzufriedenheiten, Widerstände oder Krankmeldungen in schneller Folge sind Signale, die Führung nicht übersehen darf. Hier braucht es eine wohlmeinende, fokussierte Führung, die zeigt: „Du wirst gesehen, gehört und ernst genommen.“


4. Die Falle der Schönfärberei

Eine große Gefahr besteht darin, Mitarbeitenden Probleme schönzureden:

  • „Es wird schon besser.“

  • „Wir müssen das positiv sehen.“

  • „Andere haben es auch nicht leichter.“

Solche Sätze wirken wie ein Schlag ins Gesicht. Sie nehmen den Schmerz nicht ernst – und sie verhindern, dass Beschäftigte sich ernstgenommen fühlen.

Die Rückmeldung aus meinem Workshop war eindeutig: Stärkend wirkt es, wenn Führungskräfte die Realität anerkennen und Haltung zeigen. Nicht alles lässt sich ändern, aber es darf gesagt werden, was nicht gut ist. Diese Authentizität schafft Vertrauen.


5. Haltung als Führungsaufgabe

Haltung zu zeigen bedeutet:

  • Benennen, was ist – auch das Schwierige und Belastende.

  • Grenzen klarziehen – was kann ich als Führungskraft beeinflussen, was nicht?

  • Nicht beschönigen – aber auch nicht in der Klage verharren.

  • Wertschätzung kultivieren – Mitarbeitende sehen und anerkennen.

Führungskräfte im Gesundheitswesen sagten mir: „Es tut gut, dass Sie nicht versuchen, das schönzureden.“ Genau darin liegt die Stärke: Ehrlich sein, ohne Hoffnungslosigkeit zu verbreiten.


6. Ressourcen sichtbar machen

Neben der klaren Haltung geht es darum, Ressourcen zu stärken:

  • Stimmungsträger*innen im Team unterstützen, die Positives in den Alltag bringen.

  • Kleine Erfolge sichtbar machen – und nicht untergehen lassen.

  • Räume schaffen, in denen Belastungen ausgesprochen werden dürfen, ohne dass sie die Stimmung dauerhaft dominieren.

  • Unterschiedliche Bewältigungsstrategien (Durchhalten vs. Balance wahren) als Vielfalt anerkennen.

So entsteht ein Klima, in dem sich Mitarbeitende trotz schwieriger Rahmenbedingungen nicht vollständig ausgeliefert fühlen.


7. Schlussgedanke

Führungskräfte können das System nicht allein verändern. Sie können keine politischen Entscheidungen kippen, keine Tarifstrukturen über Nacht neu schreiben. Aber sie können entscheiden, wie sie innerhalb dieser Strukturen Haltung zeigen.

Indem sie sagen, was ist. Indem sie Belastungen nicht verschweigen. Indem sie Ressourcen bewusst fördern. Und indem sie für ihre Teams einen Raum schaffen, in dem Wertschätzung, Zusammenhalt und Menschlichkeit spürbar bleiben.

Denn genau darin liegt die Kraft der Führung: Realität anerkennen – und trotzdem Möglichkeiten öffnen.